Warum wir manchmal mit schlechter Laune aufwachen
und warum das normal ist
Es gibt Tage, an denen man morgens die Augen öffnet und sofort merkt: Irgendetwas stimmt heute nicht. Die Stimmung hängt tief, obwohl am Abend zuvor alles in Ordnung war. An anderen Tagen ist es genau umgekehrt: Man geht niedergeschlagen ins Bett und steht überraschend leicht und klar wieder auf. Viele Menschen kennen diese emotionalen Sprünge – doch kaum jemand spricht darüber. Dabei sind solche Schwankungen kein Zeichen von Schwäche, sondern ein weit verbreitetes, sehr menschliches Phänomen.
Dieser Beitrag möchte erklären, warum unsere Stimmung am Morgen manchmal wie ein Überraschungsgeschenk ausfällt – positiv wie negativ – und was im Körper über Nacht passiert, ohne dass wir es bewusst steuern. Für viele Patientinnen und Patienten ist es entlastend zu hören: Das hat nichts damit zu tun, ob man „funktioniert“ oder nicht.
1. Der Morgen ist ein biologischer Neustart – und der fällt nicht jeden Tag gleich aus
Während wir schlafen, läuft im Körper ein hochkompliziertes Programm ab. Die Atmung wird ruhiger, die Muskeln entspannen, das Gehirn sortiert Erlebnisse und Erinnerungen. Gleichzeitig verändert sich die Hormonlage – und genau hier beginnt die Erklärung für die schwankende Morgenstimmung.
Der Cortisol-Peak
Kurz nach dem Aufwachen steigt der Cortisolspiegel deutlich an. Das ist normal: Cortisol hilft dem Körper, in die Gänge zu kommen, Energie zu mobilisieren und wach zu werden. Doch bei manchen Menschen sorgt dieser natürliche Anstieg für ein Gefühl von innerer Spannung oder sogar Unruhe. Dieses Gefühl wird oft als „schlechte Laune“ gedeutet, obwohl eigentlich nur ein Hormon seine Arbeit erledigt.
Schlaf ist nicht gleich Schlaf
Viele Menschen orientieren sich vor allem an der Stundenzahl. Aber die Qualität des Schlafs ist viel entscheidender:
- Wie viel Tiefschlaf gab es?
- Gab es nächtliche Unterbrechungen?
- Hat der Körper nachts stark arbeiten müssen, z. B. wegen spätem Essen, Alkohol oder Stress?
- Haben Träume oder belastende Gedanken den Schlaf „aufgewühlt“?
Man kann scheinbar „gut“ geschlafen haben – und trotzdem emotional erschöpft aufwachen.
2. Nachts wird auch die Seele aktiv
Interessant ist, dass die emotionale Verarbeitung vor allem in Traumphasen stattfindet. Erlebnisse aus den letzten Tagen, Sorgen, offene Konflikte oder unterschwellige Gefühle werden nachts verknüpft, sortiert und in das Gedächtnis eingebaut. Dieser Prozess läuft automatisch.
Das bedeutet:
Manchmal wacht man mit einer Stimmung auf, die nicht zum gestrigen Abend passt – sondern zu den Themen, die das Gehirn nachts bewegt hat. Das kann ein Rest von Ungelöstem sein, ein Echo eines Traums oder ein emotionaler „Nachklang“, der erst beim Aufstehen spürbar wird.
Viele Patientinnen und Patienten beschreiben es so: „Ich weiß gar nicht, was los ist. Ich bin einfach so.“
Und genau das trifft den Kern: Die Stimmung ist ein Zustand – kein Urteil über die eigene Person.
3. Warum die Stimmung sich manchmal im Laufe des Tages reguliert – und manchmal nicht
Ob sich die Morgenstimmung verändert, hängt von mehreren Faktoren ab:
a) Der Start in den Tag
Schon kleine Dinge machen einen Unterschied:
- Licht, besonders natürliches Tageslicht
- erste Schritte oder Bewegung
- ein warmes oder kaltes Getränk
- der erste soziale Kontakt
- die ersten Nachrichten, die man liest
Das Nervensystem reagiert empfindlich auf Reize. Manche stabilisieren, andere verstärken das Morgenprogramm.
b) Der innere Umgang
Wer morgens denkt: „Warum bin ich schon wieder so drauf?“
verstärkt Druck und oft auch die schlechte Laune.
Wer dagegen denkt: „Aha, heute ist ein ruhiger Tag. Ich muss nichts erzwingen.“
erlebt mehr Gelassenheit.
c) Sensibilität des Nervensystems
Menschen unterscheiden sich darin, wie schnell ihre Stimmung „umkippt“. Manche haben ein sehr feinfühliges System, das auf kleinste körperliche oder emotionale Veränderungen reagiert. Das ist keine Schwäche – oft ist es sogar gekoppelt an hohe Empathie oder Kreativität.
4. Die stille Norm: Wir reden kaum darüber
In einer leistungsorientierten Gesellschaft gilt es als selbstverständlich, morgens „funktional“ zu sein. Viele Menschen verschweigen deshalb, wenn der Tag emotional schwer beginnt. Man will nicht als launisch oder instabil gelten. Dieses Schweigen erzeugt zusätzlichen Druck.
Dabei wäre ein offener Umgang viel entlastender – gerade im therapeutischen Kontext. Emotionale Schwankungen sind kein Beweis für Unzulänglichkeit, sondern Teil eines natürlichen Rhythmus.
5. Was man wissen sollte – ohne Druck, ohne Selbstoptimierung
Stimmung ist dynamisch
Auch wenn sich ein Morgen schwer anfühlt: Gefühle sind nicht statisch. Sie verändern sich – manchmal langsam, manchmal schnell.
Man muss nicht „dagegen ankämpfen“
Stimmung ist kein Muskel, den man sofort aktivieren muss. Manchmal ist es hilfreicher, die Verfassung einfach zu akzeptieren: „Heute starte ich leise.“
Allein das nimmt Spannung aus dem Tag.
Der Körper arbeitet in Rhythmen
Wer das versteht, wird milder mit sich selbst. Man begreift schlechte Laune nicht mehr als persönliches Versagen, sondern als Ergebnis eines nächtlichen Prozesses.
6. Was hilft – ganz praktisch und ohne Druck
- Licht:
Ein paar Minuten am Fenster oder draußen wirken oft überraschend stark. - Ein ruhiger Start:
Nicht sofort Nachrichten, Termine oder soziale Medien. - Ein bewusstes Atmen:
Zwei, drei langsame Atemzüge können das Nervensystem regulieren. - Kurzer Körpercheck:
Bin ich hungrig? Verspannt? Habe ich schlecht geträumt? - Ein freundlicher Gedanke:
Kein Zwang, kein Mantra – eher eine Haltung:
„Ich darf langsam starten.“
Das Aufwachen in schlechter Laune ist kein Zeichen von Schwäche und kein Grund zur Sorge. Es ist Ausdruck eines lebendigen Organismus, der nachts arbeitet, sortiert und regeneriert. Wer versteht, wie viel sich „unter der Oberfläche“ abspielt, erlebt solche Morgen nicht mehr als persönliches Scheitern, sondern als Teil eines natürlichen emotionalen Rhythmus.
Und genau darum lohnt es sich, darüber zu sprechen – im Alltag, im Behandlungszimmer und mit sich selbst.


